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Vortrag in Venedig am 11.12.1999 anläßlich eines Symposiums des Archivio Luigi Nono und der Fondatione Cini.


A PIERRE
OMAGGIO A GYÖRGY KURTÁG

Zwei Kompositionen, in deren kompositiorischen Prozessen Luigi Nono konsequent eine erweiterte Zeitfunktion mittels Elektronischer Klangumformung – Klangsteuerung integriert hat.


Beide Kompositionen haben einen gemeinsamen inhaltlichen Entwurf: Gruß und Erinnerung an zwei Komponisten, zu denen er eine besondere persönliche Beziehung hatte – Gruß an Pierre Boulez zu seinem 60. Geburtstag, Gruß und Erinnerung an Giörgy Kurtág.

Die kurze Entstehungsgeschichte von A Pierre zeigt uns die Besonderheiten dieser Komposition auf:
1. Klanglich ungewöhnliche Besetzung mit zwei tiefen Blasinstrumenten: Kontrabassflöte und Kontrabassklarinette.
2. Verwendung elektronischer Instrumente zur Überwindung begrenzter Zeitfunktionen als formales Element.

Es war Anfang Februar 1985. Roberto Fabbriciani, Flöten, und Ciro Scarponi, Klarinetten, kamen in das Experimentalstudio in Freiburg, um mit Luigi Nono zu arbeiten. Roberto brachte zum ersten Mal seine Kontrabassflöte mit, wir waren alle auf die Klangexperimente mit diesem Instrument gespannt, alle wichtigen Spektralanalysatoren wurden eingeschaltet. Doch es kam die Nachricht von Nono, dass er im Haldenhotel noch zu tun hätte und erst nachmittags ins Studio kommen werde. Da die Musiker nun einmal da waren, habe ich sie gebeten, mit mir ein paar Klangversuche durchzuführen.
Schon lange war für mich die Frage aktuell, wo liegt die Zeitgrenze einer Wiederholung, einer kanonischen Form, nach dieser das Original des zu wiederholenden Audiosignals nicht mehr in meiner Erinnerung vollständig gegenwärtig ist, d.h., das selektive Hören nachläßt. Natürlich war es für diesen Versuch sehr wichtig, dass zwischen der originalen Tonfolge und dessen Wiederholung keine akustische Ruhe eintritt, sondern bis zum Zeitpunkt der Wiederholung kontinuierliche akustische Informationen vorhanden sind. Ergebnis unserer Experimente: Mit ca. 24 Sekunden Verzögerung war die zuvor genannte Zeitgrenze erreicht. Die Tonfolge wurde noch zum Teil erkannt, doch mehr als ein neu gespielter Klang, also keine Wiederholung eines vor 24 Sekunden gespielten Audiosignals.
Weitere Versuche ergaben, dass dieser hörpsychologische Vorgang von der Klangfarbe, von rhythmischen Formen und dem Tonort der Einspielung abhängig ist. So habe ich z.B. die wiederholte Tonfolge verändert, mit Bandpassfiltern den Klang selektiert und etwas Hall beigemischt. Das Ergebnis war überraschend: Die beschriebene Zeitgrenze konnte um ungefähr die Hälfte gekürzt werden, also ca. 12 Sekunden.
Die elektroakustischen Signale habe ich über zwei Lautsprecher dem Originalklang zugespielt. Dabei ließ es sich nicht vermeiden, dass kleine Anteile dieses Signals von den Mikrofonen wieder aufgenommen wurden, sodass ein sehr leises Feedback entstand, was wiederum einen sehr verschleierten Hintergrundklang entstehen ließ. Diesen Klang hat Nono später in seiner Komposition mittels einer sehr, sehr leisen Klangtransformation ergänzt, noch farbiger gestaltet. Ich möchte mit der folgenden Abbildung, einem ersten technischen Entwurf, diese elektro-akustische Funktion nochmals grafisch darstellen:

Abbildung V/01

Während die beiden Interpreten und ich unsere akustischen Experimente durchführten, muß Luigi Nono unbemerkt die Studiotür einen Spalt geöffnet und die Versuche mitgehört haben. Plötzlich kam er unerwartet zu uns herein, lächelte und sagte: ich bin doch noch gekommen. Danach notierte er sich die technischen und klanglichen Ergebnisse und wie sie entstanden sind. Vor allem Roberto mußte ihm seine neue Kontrabassflöte vorführen; interessiert studierte Nono die einzelnen Tonhöhen- und Klangbereiche, steckte seine Notizen ein und sagte: ich muss wieder zur Halde und arbeiten. Am Nachmittag und Abend des gleichen Tages komponierte Luigi Nono die ersten Takte für A Pierre, die er am folgenden Tag im Studio mit den Musikern und der Technik des Experimentalstudios erprobte, korrigierte, verfeinerte. Zurückgekehrt nach Venedig stellte Nono sofort die endgültige Fassung von A Pierre fertig, die Uraufführung fand schon wenige Tage später am 26.3.1985 anlässlich des 60. Geburtstags von Boulez in Baden-Baden statt.
Soweit die Entstehung von Luigi Nonos A PIERRE DELL' AZZURRO SILENZIO, INQUIETUM.
Nono hatte damals unsere Klangversuche sehr genau studiert und in einer vollkommenen Form in sein neues Werk integriert. Die Wiederholungszeiten – 12 und 24 Sekunden – wurden von ihm übernommen. Er nutzte die Tatsache, dass der Klang der gefilterten und wenig verhallten ersten Wiederholung nach 12 Sekunden in eine erweiterte Hörebene wanderte.

Abbildung V/02

Wir kennen diesen akustischen Vorgang als Hallradius, siehe Abb. 2. Mit abnehmender Dynamik des Direktschalls und gleichbleibender Stärke des Halls empfinden wir gehörpsychologisch den Direktschall immer diffuser, in größerer Entfernung. Diese Vergrößerung des Klangraumes wird durch die Klangumformung des Direktschalls – Klangselektion – noch deutlicher. Wir haben damit neben dem Originalklang der Instrumente zwei weitere Klangebenen, die durch ihre zeitliche Versetzung – 12 und 24 Sekunden – besonders hervorgehoben werden. Ich verstehe darunter keine dynamische, sondern, wie schon erwähnt, eine räumliche Vergrößerung des Klangbildes.
Nono wusste von unseren Experimenten in Freiburg, dass dies nur mit einem speziellen musikalischen Entwurf verwirklicht werden konnte und erarbeitete eine streng horizontal ausgerichtete Kompositionsform.

Abbildung V/03

Auf den ersten Blick sehen die Noten sehr einfach aus; wer sich jedoch einmal mit der hervorragenden Einführung zu A Pierre in der Ricordi-Partitur befasst hat, konnte bald feststellen, dass Nono für nahezu jede Note eine eigene Interpretationsform verlangt: vom Pfeifen bis zu Whistlesounds. Ich kann daher Interessenten das Studium dieser Texte in drei Sprachen – italienisch, englisch und deutsch – sehr empfehlen.
Nono schafft damit sehr kontrastreiche Klangstrukturen, die sich, je nach Tonhöhe, vom ruhigen bis zu einem aggressiven Ton bewegen. Zusätzlich setzte der Komponist für die Instrumente eine Klangtransformation ein. Diese Transposition – eine kleine Sept und ein Tritonus tiefer – wird durch ein sehr langsames Vibrato gesteuert, was zu einer variablen Tonhöhensteuerung führte. Um jeglichen Sireneneffekt zu vermeiden, muss diese Transposition sehr leise ausgesteuert werden. Der Klangreichtum der beiden Instrumentalstimmen kreiert in Verbindung mit der Klangselektion in Bandpassfiltern und der Klangtransposition besonders reizvolle neue Klangspektren, die, wie wir in Abb. 3 sehen, aufgrund der klaren horizontalen Kompositionsform Nonos in allen Feinheiten und verschiedenen Klangebenen gehört werden können.
Sicherlich hat Luigi Nono schon im ATMENDEN KLARSEIN oder auch in PROMETEO zum Beispiel ähnliches Klangmaterial für die Instrumente verwendet, doch in Zusammenhang mit der in Abb. 4 dargestellten endgültigen technischen Vorlage realisiert der Komponist eine vollkommen neue musikalische Aussage.

Abbildung V/04

Die einzelnen Werte für die dynamische Regelung und der Nachhallzeit sind in relativen Prozentualwerten angegeben und müssen der jeweiligen Saalakustik angepasst werden. Nonos Gesamtdynamik erstreckt sich vom fünffachen Pianissimo bis zum Forte, wobei der Ausbruch nach Forte nur einmal auftritt. Meist variiert die Lautstärke um das Pianissimo. Nono hat den Grundgedanken meiner Versuche, eine hörbare kanonische Wiederholung zu vermeiden, noch weiter entwickelt. Aufgrund immer wiederkehrender Fermaten von ca. 6 Sekunden Dauer wird die starre, zeitliche Abfolge der Wiederholungen von 12 und 24 Sekunden vollkommen aufgelöst. Nono verhindert damit eine Periodik innerhalb seiner sehr differenzierten und unrhythmisch empfundenen Musik, deren innere Form als Funktion der Zeit komponiert ist. Eine Klangregie muss daher so transparent sein, dass der Zuhörer meist nicht mehr erkennen kann, was original gespielt und was aus den Lautsprechern eingespielt wird.
Ursprünglich waren zwei Lautsprecher, hinter den Solisten postiert, für eine Aufführung vorgesehen. Später hat Luigi Nono vor allem in großen Konzerträumen zusätzlich 2 weitere Lautsprecher an der Rückseite des Auditoriums eingesetzt mit dem ausdrücklichen Vermerk: ad libitum. Außerdem muss die Lautstärke dieser beiden Zusatzlautsprecher 3 und 4 nach Versuchen mit dem Komponisten getrennt von den Lautsprechern 1 + 2 kontrolliert, ausgesteuert werden. Abb. 5 zeigt das Dynamikverhältnis zwischen den Lautsprechern.

Abbildung V/05

Nun wird immer der Vorwurf laut, Live-Elektronik, Elektronische Klangumformung wären aufgesetzte Attribute einer Komposition. Ich glaube, dass es keine typischeren Kompositionen gibt wie A PIERRE und OMAGGIO A KURTÁG von Luigi Nono, die diesen Vorwurf restlos widerlegen. In beiden Werken hat Nono die Live-Elektronik als gleichwertiges Material neben dem überlieferten mechanischen Instrumentarium oder Singstimme in seinen kompositorischen Prozess einbezogen. Beide Werke würden ohne die Elektronische Klangerweiterung ihre inhaltliche und musikalische Aussage verlieren. Wir werden dies auch und vor allem bei der Besprechung von OMAGGIO A KURTÁG in besonderer Weise erfahren. Ich habe zu dieser Aussage mit einem Flötensolo ein kleines Beispiel vorbereitet. Sie hören zuerst ein paar Takte aus A Pierre ohne Live-Elektronik, danach den gleichen Ausschnitt mit Elektronischer Klangerweiterung.

Die Tondateien sind aus Platzgründen (Datenmenge) mono. Bitte die Dateien zuerst vollkommen herunter laden, da sonst beim ersten Abhören Unterbrechungen auftreten können.

Klangbeispiel 1 (mp3), Martin Fahlenbock, Flöte
Klangbeispiel 2

Diese zwei Beispiele zeigen deutlich, dass ohne die Elektronische Klangumformung, Klangerweiterung ein Instrument, ein Teil der kompositorischen Substanz fehlt. Wie schon zuvor gesagt, Nono kannte von den Freiburger Experimenten her genau das klangliche Ergebnis der Doppelwiederholungen, umgewandelt und original. Er hat die Instrumentalstimmen auf dieses Ergebnis hin komponiert und damit eine vollkommene Einheit zwischen mechanischem und elektronischem Instrument geschaffen. Ich bestreite nicht, dass es andere Kompositionen gibt, z.B. Emmanuel Nunes "Wandlungen", die mit und ohne Live-Elektronik aufgeführt werden können. Dies ist jedoch bei den in Zusammenarbeit mit dem Experimenalstudio erarbeiteten Werken Nonos nicht möglich. Sie erfordern bei einer Aufführung eine gleiche Wertstellung zwischen traditionellem Ensemble und der Elektronischen Klangumformung. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass eine Umbesetzung weder im instrumentalen oder vokalen, noch im technischen Part unmöglich ist, ohne die ursprünglich gewollte Klangqualität des Komponisten zu zerstören.

Hören wir einen Ausschnitt aus A PIERRE von Luigi Nono in einer Probenaufnahme, die direkt nach der Fertigstellung der Komposition mit Roberto Fabbriciani und Ciro Scarponi im Experimentalstudio realisiert wurde.

Partitur: RICORDI Milano ISMN M-041-33943-1

Klangbeispiel 3


OMAGGIO A GYÖRGY KURTÁG

Die Uraufführung von OMAGGIO A GYÖRGY KURTÁG am 10.6.1983 in Firenze war für viele Zuhörer eine Enttäuschung. War es wirklich eine Uraufführung?

Nono arbeitete in diesem Jahr an 'Guai ai gelidi mostri ' und an 'Prometeo'. Es fanden mit der Sängerin Susanne Otto, den Instrumentalisten Roberto Fabbriciani, Ciro Scarponi und Giancarlo Schiaffini zahlreiche experimentelle Proben im Freiburger Studio statt, eine dieser Proben war das Konzert in Firenze. Die Komposition "Omaggio" bestand aus musikalischen Grenzwerten, die Nono für jeden Interpreten in Tonhöhen, Klangfarben und Dynamik angegeben hatte. Auch für die Technik sind vom Komponisten einige Vorlagen zur Klangumformung zusammengestellt worden, die jedoch mit der späteren endgültigen Fassung von "Omaggio" nichts zu tun hatten. Es sei noch erwähnt, dass Luigi Nono, Alvise Vidolin und ich unter Mitwirkung der Interpreten zu Beginn der eigentlichen Aufführung eine musikalische Einführung in die Elektronische Klangumwandlung gegeben haben. Ich möchte sagen, diese Veranstaltung war ein Arbeitskonzert unter dem Titel: 'composition in progress'. Nono hat diese, seine Konzerterfahrung, erst 1987 in seiner Komposition "Post-Prae-Ludium Donau" für Tuba solo und Live-Elektronik eingebracht. In diesem Werk sind für den Musiker ebenfalls nur Grenzwerte für Tonhöhe, Klangfarbe, Tonverläufe, rhythmische Strukturen, Lautstärke und vor allem Zeitfunktionen genau definiert. Die Zwischenräume müssen vom Interpreten mit Improvisationen ausgefüllt werden. Für die Elektronik sind exakte Klangfunktionen, Programme, festgelegt.
Meine folgende Besprechung bezieht sich ausschließlich auf die Fassung von OMAGGIO A GYÖRGY KURTÁG, die am 6. Juni 1986 in Torino uraufgeführt wurde.
Zu Beginn meiner Ausführungen habe ich geschrieben: Kompositionen, in denen Luigi Nono konsequent erweiterte Zeitfunktionen mittels Elektronischer Klangumformung, Klangsteuerung integriert hat. Für 'A Pierre' setzt Nono die zeitliche Versetzung eines akustischen Signals ein, Wiederholungen ohne Feedback. Obwohl auch diese wieder die Komposition formal bestimmen, so war die Grundidee für 'OMAGGIO A GYÖRGY KURTÁG' eine vollkommen andere.
Nono hat mir seinen inhaltlichen Entwurf zuerst in einem Brief mitgeteilt:

Abbildung V/06

Was bedeuten diese Angaben:
1. Die Musik soll wie Signale, Wörter, Fragmente in der Luft, im Raum zu György Kurtág sein,
2. Zur Verwendung der Elektronischen Klangumformung schreibt Nono:
Immer etwas anders, nicht starr, durch
verändern des Spektrums, Bandpassfilter,
verändern des Raumklanges, unterschiedliche Klangorte (4 Lautsprecher), Klangbewegung. während der Proben auf 6 Lautsprecher erhöht.
Verändern der Schichte, bedeutet unterschiedliches Feedback bei der Verzögerung des Signals.
3. Manchmal Instrumente allein, nur originaler Instrumental- oder Vokalklang.
4. Und wieder mit Live-Elektronik.
Zum besseren Verständnis sehen wir in Abb. 7 die technische Legende, die ich in dieser Zusammenstellung während der Proben in Torino aufzeichnete

Abbildung V/07

Um Irrtümer zu vermeiden, bezeichne ich die 4 Programme mit Kombinationen. Alle vier sind 3 Sekunden zeitversetzt, verzögert, mit und ohne Feedback. Abhängig von der Größe des Feedbacks klingen die Eingangssignale der Instrumente oder der Singstimme unterschiedlich aus, im Extremen kann ein Klanggemisch im Verzögerungsgerät über eine längere Zeitdauer akustisch gespeichert werden, wobei die teils horizontalen Verläufe der Originalstimmen übereinander geschichtet, komprimiert und zu einem vertikalen Klanggebilde umgewandelt werden. Nono bezeichnet dies in seinem Brief mit: "verändern in Schichte". Gemeint ist damit die Größe des Feedbacks. Die Veränderung des Klangspektrums – Nono kann diese Klangveränderungen in den Proben nicht nur hören, sondern in der dreidimensionalen Analyse auf einem Bildschirm sehen und genau notieren – diese Klangmutation wird durch drei MÖglichkeiten erreicht:

1. Zerlegen des Klangspektrums in seine einzelnen Formant- oder Teiltonbereiche. Wir kennen diese Klangselektion von der ersten Wiederholung in A Pierre.
2. Transposition des Klangspektrums in einem Harmonizer. Für "Omaggio a Kurtág" hat Nono die Transposition eines Tritonus und einer Oktave nach unten ausgewählt. Zusammengemischt mit dem Originalklang ensteht dadurch ein neues Klangspektrum, abhängig von der Größe derTransposition.

Der Klangraum wird zum Einen durch unterschiedliche Zuordnung der Ausganssignale zu den 6 Lautsprechern, zum Andern durch eine Klangbewegung – so in Kombination 3 – verändert. Diese Klangbewegungen werden in drei verschiedenen, ruhigen Bewegungsrichtungen mit einem Universal-Raumklangsteuergerät, dem Halaphon realisiert und sind vom Komponisten genau definiert. Die einzelnen Bewegungsrichtungen werden mittels der Lautsprecherzuordnungen gesteuert.
Luigi Nono hat für seine Komposition von Anfang an eine exakte Vorstellung über die Verwendung der Elektronischen Klangumformung gehabt, die dann in den Proben präzisiert wurde, vergleichen wir hierzu noch einmal die Abbildungen 6 und 7:

Abbildungen 6 und 7 wiederholen:

Abbildung V/06
Abbildung V/07

Spektrum - Kombination 4, fünf Bandpassfilter
Spektrum - Kombination 1 und 2, Klangtransposition
Raum - Zuordnung der Lautsprecher, Klangbewegung (Kombination 3) Nachhall (12 Sek. und 50 Sek.)
Schichte - Verzögerungsgeräte (3 Sek.) mit variabler Schichtung (Feedback)

Entsprechend seines technischen Entwurfs hat Nono die Vokal- und Instrumentalstimmen komponiert: im Gegensatz zu A Pierre vorherrschend vertikaler Tonsatz vor allem zur Realisation des großen Nachhalls und der durch Feedback komprimierten Klänge.

Abbildung V/08

In Abb. 8 sehen wir die erste Seite der handschriftlichen Partitur mit ergänzenden Eintragungen der Klangregie, Uraufführung Torino. In Takt 9, grün gekennzeichnet, erhält der Bläserakkord einen künstlichen Nachhall von 50 Sekunden. Natürlich wird die Intensität dieses Akkordes – Pianissimo – den Nachhall sehr verkürzen. Die Dauer des Nachhalls ist von der Intensität des Eingangsignals abhängig. Nono schreibt daher keine exakte Zeitdauer, sondern überbrückt diese technisch bedingte ungenaue Nachhalldauer mit einer Fermate. Was jedoch trotzdem gehört werden kann, ist das Klangvolumen, das der Größe eines Raumes mit 50 Sekunden Nachhall entspricht. Es ist daher wichtig, dass nur Nachhallgeräte mit einstellbarem Raumvolumen verwendet werden. Die eben genannte Fermate gibt außerdem der Klangregie die Möglichkeit, die Halldauer gegebenenfalls je nach Größe des Konzertsaales durch Blenden variabel zu gestalten. Diese Klangpausen verwirklichen Nonos inhaltlichen Entwurf: "Wie Signale zu György Kurtág". Während wir in Takt 13 eine kürzere Klangpause finden, setzt Nono in den Takten 14 bis 17 die erste Variante einer Klangpause durch Verzögerung mit Feedback für die Altstimme ein. Das vorgeschriebene Tempo ist viertel gleich 60, die Verzögerungszeit mit Feedback drei Sekunden. Dies ergibt bei einer punktierten halben Note der Altstimme genau eine Wiederholung mit einfacher Schichtung. Entsprechend kurz ist die Ausklingfunktion des Feedbacks, in Abbildung 9 rot gezeichnet. Der Originalklang der Stimme wird in der Wiederholung einen Tritonus nach unten transponiert: Kombination 1.

Abbildung V/09

In den Takten 18 bis 20, Abb. 9, setzt Nono die zweite Variante einer Klangpause durch Verzögerung mit Feedback ein. Diese ist jedoch formal gesehen gegenüber dem Beispiel Takt 14 total verändert. Der Originalton der Bläser wird wieder 3 Sekunden mit Feedback und einer Tritonustransposition verzögert. Das klangliche Ergebnis wird jedoch nicht sofort hörbar, sondern erst in den Takten 23 bis 27 eingespielt. Man könnte diesen akustischen Vorgang als Echo mit langem Nachhall bezeichnen, d. h., erst nach ca. 20 Sekunden ist die Klangverdichtung der Takte 18 bis 20 zu hören. Ein kompositorischer Einfall, der zwei Zeitfunktionen in einem Komplex vereint: Zeitdauer der Wiederholung mit Feedback und die Dauer des Echos. Im Klangbeispiel 4 hören wir zuerst den erweiterten Klangraum durch einen überdimensionierten Nachhall:

Klangbeispiel 4

Der Nachhall wurde ausgeblendt. Hören wir im nächsten Beispiel eine Verzögerung mit Feedback, Form eins ohne zeitliche Versetzung. Ich möchte noch einmal auf die Transposition eines Tritonus nach unten aufmerksam machen.

Klangbeispiel 5

Es folgt die dritte Version, verdichteter und transponierter Originalklang mit zeitversetzter Einspielung. Das Feedback wird langsam ausgeblendet, es entsteht eine natürliche Blende durch Auflösung der Klangdichte. Dieser technische Vorgang ist für eine Aufführung besonders wichtig

Klangbeispiel 6

Diese Klangbeispiele werden, wie wir aus der technischen Legende kennen, durch das gesamte Werk immer klanglich verändert. Dadurch verwirklicht der Komponist seine inhaltliche Konzeption: " Etwas immer anders beweglich". Der restliche Vokal- und Instrumentalpart bleibt unverändert ohne Klangumformung, Klangerweiterung. Luigi Nono hebt dadurch die Aussage der zuvor besprochenen Funktionen der Live-Elektronik besonders hervor, die Klangpausen werden zu neuen Klang- und Zeiträumen. Ich zitiere den Komponisten: "Hinaus in den kosmischen Raum zum Universum, andere Räume, andere Erden, andere Abgründe, andere Phantasien".

Luigi Nono hat mit diesen zwei Werken, A Pierre und OMAGGIO A GYÖRGY KURTÁG, neue Klangebenen entdeckt, die er mit Hilfe der modernen Technik, der Elektronischen Klangumformung verwirklichen konnte. Unterschiedlich in der Besetzung, unterschiedlich in der formalen Komposition haben beide Werke eine gemeinsame Aussage, ein gemeinsames spirituales Konzept.
Hören wir OMAGGIO A GYÖRGY KURTÁG zweimal. Während der ersten Wiedergabe werde ich Ihnen die Partitur auf dem Bildschirm zeigen, um so das zuvor gesagte zu verdeutlichen. Danach wollen wir das kurze Werk, ca. 15 Minuten, die Musik Nonos noch einmal ohne visuelle Ablenkung hören. Auch dieses Werk Nonos ist in einer sehr guten Edition bei Ricordi erschienen. Ich benutze absichtlich eine Kopie der Originalpartitur, da ich in dieser alle Funktionen der Live-Elektronik bei den Proben zur Uraufführung in Torino in Farben eingetragen habe.

Partitur: RICORDI Milano ISMN M-041-33784-5
Klangbeispiel 7 (Omaggio mit Partitur)

Klangbeispiel 8 (Omaggio)

Aus rechtlichen Gründen bitte ich die Klangbeispiele 7 und 8 von der CD "luigi nono 3", AUVIDIS FRANCE, MO 782047, abzuhören.