Hans Peter Haller

Erinnerungen an Venedig - Wege zu Prometeo

(Aus dem Programmbuch zur Aufführung von Luigi Nonos „Prometeo“ in Berlin, inventionen 2000, berliner festival neuer musik)

Am 14.9.1980 besuchte Luigi Nono am Nachmittag zum ersten Mal das Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks in Freiburg. Diskussionen - Vorführungen - studieren - experimentieren - kennenlernen. Das atmende Klarsein für Bassflöte und Solistenchor entstand im Winter 80/81 im Freiburger Studio und wurde im Mai 1981 in Florenz uraufgeführt. Der letzte Wegabschnitt zu Prometeo hatte für Nono begonnen, das Atmende war schon ein Teil dieses Werkes, wenigstens bis zur Mailänder Neufassung.

Tagebuch Venedig, 25.8.84:

11.15 Uhr: Treffen mit Gigi in S. Lorenzo - faszinierend steht die halbfertige Struttura von Renzo Piano vor mir. Gewaltig emporstrebende Holzspanten, Pfeiler eines neuen Raumes im Raum.
17.15 Uhr: Gigi (Luigi Nono) gibt mir die erste vollständige Partitur von Prometeo. Das Unglaubliche ist wahr: Prometeo ist theoretisch fertig. Werden wir die Partitur richtig interpretieren - Prometeo zum Leben verhelfen?
In kurzen Abständen besuchte uns Luigi Nono - wir experimentierten weiter. Schon am 24.9.1981 folgte die zweite Uraufführung - Io, Frammento Dal Prometeo für Bassflöte, Kontrabassklarinette, drei Solosoprane, Solistenchor und elektronische Klangumformung. Der ruhelose Wanderer, Suchende und Freund, Luigi Nono, kommt von den Gedanken an und über Prometeo nicht mehr los. Weitere Kompositionen wie Diario Polacco No. 2 und Guai Al Geledi Mostri sind Meilensteine auf dem Weg zum 25. September 1984.

Tagebuch Venedig, 27.8.84:
11.00 Uhr: die Arbeit beginnt in Ruhe und mit viel gegenseitigem Verständnis.
19.00 Uhr: die Instrumente kommen an - Ruhe bewahren - es klappt schließlich doch noch mit dem Ausladen, der Zoll in Chiasso hatte einen Stempel reklamiert, den es nicht gibt.


Um in das „Innere“ eines Klanges vorzudringen, müssen wir selektieren, eine Analyse ist eine Klangselektion. Im Prologo seines Prometeo löst Nono das Problem der Klangfarbengestaltung für die gesprochenen Worte (zwei Sprecher) mit einer variablen Klangselektion mittels Bandpassfilter.

Tagebuch Venedig, 29.8.84:
In S. Lorenzo wird gebaut und weiter gebaut. Erst spät abends bin ich mit Gigi allein in diesem Raum - zum ersten Mal Stille.

Für Luigi Nono bedeutete die Loslösung von statischen Klangstrukturen durch Einbeziehung der elektronischen Klangumformung ein Suchen nach neuen kompositorischen Formen, die, wenn auch relativ frei notiert, festen kompositorischen Gesetzen unterliegen.

Tagebuch Venedig, 3.9.84:
9.00 Uhr: S. Lorenzo, Verkabelung der Lautsprecher. Wir kämpfen gegen den Schönheitsfanatismus der Architekten, die noch nicht ganz begriffen haben, dass auch der elektronisch umgeformte Klang ein Teil von Prometeo ist.

Elektronische Klangumformung, Klangraum und Zeitraum bedeuten heute keine Starrheit des elektronisch erweiterten Klanges, sondern individuelle Interpretation; für Nono eine wichtige Aussage.

Tagebuch Venedig, 9.9.84:
Es ist faszinierend - eine Stimme singt in einem relativ trockenen Raum (Struttura), gleichzeitig - je nach Dynamik - wird der zweite hallige Raum (Kirche S. Lorenzo) teils von oben, teils von unten und den Seiten akustisch zugemischt, was zu neuen Klangstrukturen führt.

Zitat aus einem Gespräch mit Luigi Nono 1984 in Stuttgart: „Heute haben wir andere Arten elektronischer Instrumente zur Verfügung, bis zum Computer und seiner Programmierung. Ich glaube, dass der Mensch mehr den je die Möglichkeit und auch Fähigkeit besitzt, zu studieren, andere Wege zu öffnen, um Gipfel zu finden, zu entdecken, die weiter als der Himmel sind, andere Räume, andere Erden, andere Abgründe, andere Phantasien.“

Tagebuch Venedig, 12.9.84:
Der Raum !!! Klangumformung für das Interludium gestrichen, Originalklang im Raum. Für mich eine weitere Bestätigung, dass die Akustik des Raumes entscheidend auf die Interpretation der Musiker einwirkt - Klanggestalten selbst entwickelt, die in anderen Räumen nur mit zusätzlicher elektronischer Klangumformung verwirklicht werden können.

Wie konsequent Nono die Mittel der elektronischen Klangumformung in seinen kompositorischen Prozess integriert hat, beweist die Schaffung von eigenen, aus der Klangerweiterung entstandenen musikalischen Formen und Interpretationsangaben wie z.B. „Coro Lontanissimo“ (Prologo und Isola una) in seinem Prometeo.

Tagebuch Venedig, 15.9.84:
Man sollte über Probleme nicht viel schreiben, sie sind immer teils angenehm, teils unangenehm. Dies bezieht sich nicht nur auf den Lern- und Arbeitsprozess, sondern auch auf menschliche Qualitäten.

Wenn es uns gelingt, die feinsten Klangbewegungen - Klangmutationen in Nonos Komposition wahrzunehmen, beginnen wir seine Musik zu hören (Tragedia dell‘ ascolta).

Tagebuch Venedig, 17.9.84:
Wird Nonos Musik leise, noch leiser, ich empfinde sie dann noch dramatischer, aufgewühlter, bewegter.

Ich glaube, dass wir unser Wissen und persönliches Verhältnis über und zu Nonos Musik nach seinem Tode neu überdenken müssen, um nicht in schlechte Klischees zu verfallen und uns selbst in einer schwachen Kopie seines (Nonos) musikalischen Denkens und Handelns zu verlieren.

Tagebuch Venedig, 18.9.84:
Schwere Gewitter, alles ist nervös, die Luft und auch wir sind mit Hochspannung geladen. Schlechte Probe.

Musik ohne Klangraum, ohne Zeitraum ist undenkbar.
Luigi Nono komponierte im Raum, für den Raum.
Der Raum, die elektronische Klangerweiterung werden eine formale Funktion seiner Komposition.

Tagebuch Venedig, 25.9.84:
21.00 Uhr: Premiere. Für mich ist die kreative Arbeit abgeschlossen - es beginnt die Reproduktion - die Konzentration auf den richtig gesteuerten Ablauf - das Hoffen, dass alle Geräte gut funktionieren. Die zweite Arbeitsphase an Prometeo hat begonnen. Wir sind nicht mehr unter uns. Die Zuhörer erwarten und verlangen ein Resultat unserer Vorbereitungen: „Prometeo“


Bemerkung des Autors: Das vollständige Tagebuch Venedig werde ich auf mehrfachen Wunsch im kommenden Herbst 2001 in meiner Homepage veröffentlichen.